Mit einem Traumergebnis von über 70% der Stimmen gewinnt das Wahlbündnis von Premier Nikol Paschinjan die Parlamentswahlen. Wie lange der Hype um seine Person anhalten
wird, ist ungewiß.
17.12.2018. Die einstmals mächtige nationalkonservative und stark rußlandfreundliche Republikanische Partei (HHK), welche das Land seit 1999
regierte und noch vor zwei Wochen 58 von 105 Parlamentarien stellte, ist aus dem Parlament geflogen. Mit nur 4,7% scheiterte sie krachend an der 5%-Hürde.
Das neugebildete Bündnis „Mein Schritt“, der eher westlich, aber nicht weniger national orientierten Opposition, erhielt 70,4% der Stimmen und damit die Zweidrittelmehrheit.
Es ist durch die neu aufgestellten Wahlbündnisse schwer feststellbar, welche Parteien nun in den nächsten Jahren keine Rolle mehr im Parlament spielen und welche ein paar Abgeordnete über die
Bündnisliste stellen, denn Paschinjans „Mein Schritt“ hat zahlreiche kleine Parteien eingesammelt.
So zum Beispiel trat der liberal-nationale Armenische Nationalkongreß (HAK) des Unabhängigkeitspräsidenten Lewon Ter-Petrosjan (1991-98) zur diesjährigen Wahl als eigenständige Kraft nicht
an, es ist aber anzunehmen, daß sich dessen Anhänger im „Mein-Schritt-Bündnis“ organisiert haben, zumal Paschinjan ursprünglich aus dem Lager Ter-Petrosjans kommt. Allerdings warb Ter-Petrosjan
in den letzten 20 Jahren für einen Ausgleich mit dem Erzfeind Aserbaidschan, da er die zunehmende Stärkung des erdölreichen Gegners vorausgesehen hatte und verscherzte sich so viele Sympathien im
nationalen Lager. Paschinjan dürfte hier einen härteren Kurs verfolgen.
Definitiv mit 3,9% der Stimmen nicht mehr im Parlament vertreten ist auch die sozialdemokratisch-nationalistische Traditionspartei Armenische Revolutionäre Föderation (Daschnak), die
bereits seit den 1920er Jahren existiert, zahlreiche Anhänger in der Diaspora hat und für ein Großarmenien eintritt, welches auch die in Aserbaidschan, der Türkei und Georgien liegenden
Siedlungsgebiete umfaßt.
Auch die Wir-Allianz und die von Veteranen des Karabach-Krieges unterstützte Partei Sasna Tserer scheiterten mit 2% bzw. 1,8% der Stimmen. Außer Paschinjans Bündnis konnten
lediglich zwei weitere Parteien ins Parlament einziehen: die westlich-liberale Gruppierung Leuchtendes Armenien welche 6,4% der Stimmen erhielt und zu den Verbündeten Paschinjans gehört
und die eher liberalkonservativ einzustufende Partei Blühendes Armenien (BHK) des opportunistischen Oligarchen und Geschäftsmannes Gagik Zarukjan mit 8,3%. Zarukjan war ein Verbündeter der
Republikanischen Partei, doch erkannte er schnell, daß die BHK an deren Seite keine großen Chancen mehr hatte und er wechselte noch während der Samtenen Revolution in der ersten Jahreshälfte 2018
halbherzig ins Lager Paschinjans bzw. die eher rußlandfreundliche BHK schwankte zwischen den beiden großen Lagern.
Es ist also keine wirkliche Opposition im Parlament vertreten – eine Situation, die es noch nie gab, seit Armenien unabhängig ist. Möglicherweise könnte Zarukjans BHK versuchen, die Stimme der
Opposition im Parlament zu spielen, doch man sollte nicht allzu viel Erwartungen in den windigen Geschäftemacher und ehemaligen Weltmeister im Armwrestling und seine Truppe investieren.
Das plötzliche Verschwinden der einst so mächtigen Republikanischen Partei aus dem Parlament läßt sich damit erklären, daß sie wie die meisten Parlamentsparteien eine rußlandfreundliche
Außenpolitik, eine liberale Wirtschaftspolitik und eine konservative Gesellschafts- und Innenpolitik betrieben hat, sich also ideologisch kaum von der BHK und anderen Parlamentsparteien
unterschied, aber als „Partei der Macht“ Pfründe und Posten vergeben konnte und sich so ihre Anhängerschaft sicherte. Mit dem Machtverlust hatten die Republikaner nichts mehr, was sie ihren
Unterstützern bieten konnten. Ja, es wurde sogar zu einer Hypothek sich öffentlich zu den Republikanern zu bekennen. So blieben nur die wirklich ideologisch Überzeugten und die Funktionäre als
Wähler bei dieser Wahl übrig – und deren Unterstützung reichte eben nicht aus.
Sollte Paschinjans Regierung allerdings innerhalb eines Jahres keine greifbaren Erfolge bei der Verbesserung des Lebensstandards hervorbringen, könnte es „Mein Schritt“ bei der nächsten Wahl
ähnlich wie den Republikanern gehen.
Kay Hanisch
Dezember 2018
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In Armenien bereitet die prowestliche Opposition einen Machtwechsel vor. Wird der kleine Kaukasusstaat jetzt auch in das Lager der US-Satellitenstaaten gezogen?
26.4.2018. Vor einigen Tagen trat Sersch Sargsjan, der rußlandfreundliche Premierminister von Armenien wegen Massenprotesten zurück. Bis zu 50.000 Armenier waren angeblich
täglich auf die Straße gegangen und hatten ihren Unmut gegen die Machtrochade Sargsjans zum Ausdruck gebracht. Dieser hatte von 2008-18 die Präsidentschaft des kleinen Landes mit seinen knapp 3
Mio. Einwohner inne, konnte aber nach zwei Amtszeiten verfassungsbedingt nicht wieder antreten. Also ließ er die Verfassung des Landes ändern: künftig sollte der Präsident nur noch repräsentative
Aufgaben haben, während die eigentlichen Machtbefugnisse beim Regierungschef liegen – also so ähnlich wie in Deutschland.
Mit dem Oligarchen Armen Sarkisjan, der nicht mit ihm verwandt ist, ließ er quasi einen Strohmann ins höchste Staatsamt wählen und wollte es sich im Regierungssessel bequem machen.
1991 erlangte Armenien unter dem gemäßigt prowestlichen Präsidenten Levon Ter-Petrosjan die Unabhängigkeit. Der promovierte Historiker unterstützte die armenische Minderheit im benachbarten
muslimischen Aserbaidschan. Die Spannungen wuchsen und als die armenischen Aserbaidschaner von der Staatsmacht vertrieben wurden und sich in dagegen Milizen formierten, marschierten armenische
Truppen zu deren Unterstützung ins militärisch wesentlich stärkere und größere Nachbarland ein. Sie besetzten das armenische Siedlungsgebiet Berg-Karabach und noch etliche andere Gemeinden, um
einen Korridor nach Armenien herzustellen.
Die armenischen Separatisten in Aserbaidschan riefen die „Republik Berg-Karabach“ aus, die von keinem Land der Welt, nicht einmal von Armenien selbst anerkannt wurde.
Obwohl Armenien den Krieg gegen das Nachbarland gewonnen hatte, setzte das folgende Wirtschaftsembargo, welches Aserbaidschan und sein Verbündeter Türkei über den kleinen Binnenstaat verhängten,
dem Land wirtschaftlich zu. Ter-Petrosjan, der sowohl gute Beziehungen nach Moskau, als auch zur EU und nach Washington pflegte, wurde 1996 wiedergewählt, doch eine Welle der Unzufriedenheit
wegen der Folgen des Wirtschaftsembargos und der Verhandlungsbereitschaft des Präsidenten gegenüber Aserbaidschan erfasste das Land. Ter-Petrosjan konnte sich noch bis 1998 im Amt halten, ließ
zuletzt Panzer in der Hauptstadt auffahren, trat dann aber zurück und zog sich in seinen Beruf als Wissenschaftler zurück.
Dabei wurde er von einer Clique ausgebootet, der er selbst zur Macht verholfen hatte: den Karabach-Armeniern. Seinen Nachfolger Robert Kotscharian, der aus der Separatistenrepublik stammte, hatte
er als Zugeständnis an den nationalistischen Teil der Wählerklientel zum Premierminister ernannt.
Kotscharian regierte zehn Jahre und schaffte es, die Wirtschaft zu stabilisieren, band das Land aber enger an Rußland und verfolgte eine kompromißlose Linie im ungelösten Konflikt mit
Aserbaidschan, was die internationale Isolierung des Landes vorantrieb.
Der Westen hätte Armenien im geostrategischen Tauziehen um Einflußbereiche gern aus der russischen Vormundschaft gelöst, doch alle politischen Gruppierungen und Personen, die er unterstützte,
blieben chancenlos gegen den rußlandfreundlichen Republikanischen Block um Kotscharian. Als dieser 2008 nicht mehr antreten durfte, eröffnete sich eine neue Chance für das geostrategische
Stühlerücken des Westens: Levon Ter-Petrosjan hatte mit dem Armenischen Nationalkongreß (HAK) eine neue Partei gegründet und meldete seine Präsidentschaftskandidatur an. Die Westmächte versuchten
den eigensinnigen Ex-Präsidenten mit ihrer „Regimewechselmaschine“ aus hörigen NGO´s zu unterstützen, hatten sich aber verrechnet, denn Ter-Petrosjan hatte vor allem armenische und nicht
westliche Interessen im Blick. Er wollte zwar dem Land größeren Spielraum geben, in dem er die Verbindungen zu EU und NATO ausbaute, intensivierte aber im Wahlkampf gleichzeitig seine Beziehungen
zu Rußland, um Moskau zu versichern, daß er keinen generellen Lagerwechsel anstrebte.
Er landete aber nur auf Platz Zwei hinter Kotscharians Wunschnachfolger und Premier Sersch Sargsjan.
Die Anhänger von Levon Ter-Petrosjan, die sich unter der Farbe orange versammelt hatten und damit auf den Umsturz in der Ukraine von 2004 anspielten, organisierten noch ein paar Wochen lang
Proteste, dann zog sich ihr Kandidat wieder aus der Politik zurück. Selbst sein gewonnenes Abgeordnetenmandat für die HAK nahm Ter-Petrosjan nicht an und überließ es einem Parteifreund.
Unter Sersch Sargsjan, der kompromißbereiter als sein „Ziehvater“ Kotscharian war und auch auf die Opposition zuging, verstärkte sich der Einfluß einer mit Rußland verbundenen wirtschaftlichen
Clique. Ohne Beziehungen zu diesen Kreisen war er sehr schwer geworden, einen vernünftigen Job zu ergattern. (Dies ist im übrigen in Deutschland nicht anders – versuchen Sie mal im Medienbereich
Karriere zu machen, ohne klar transatlantisch eingestellt zu sein, Anm.)
Fünf Jahre später das gleiche Spiel. Der Westen unterstützte bei der Präsidentschaftswahl einen ihm genehmen Kandidaten, den Vorsitzenden der Zentrumspartei Erbe, der lange in den USA
gelebt hatte, gegen Sargsjan.
Der gewann die Wahl, es gab Proteste der Opposition, die Lage beruhigte sich wieder.
Weitere fünf Jahre später und nach der Verfassungsänderung, die Armenien von einer Präsidial- zu einer parlamentarischen Demokratie machte, gab es nun den ersehnten Machtwechsel, als Sargsjan
sein Versprechen brach, nicht den mit neuer ausgestatteten Sessel des Premierministers zu erklimmen.
Der in den westlichen Medien nun ganz selbstverständlich als „Oppositionsführer“ präsentierte Nikol Paschinjan ist zwar ein langjähriger Aktivist der pro-westlichen Opposition, aber einer breiten
Öffentlichkeit außerhalb Armeniens als „Führer der Opposition“ völlig unbekannt.
Paschinjan wurde 1999 Chefredakteur der Tageszeitung „Die Zeit Armeniens“ und schrieb häufig über Korruption und Skandale. 2008 trat er im Präsidentschaftswahlkampf für Levon Ter-Petrosjan als
„Anheizer“ der Massen auf.
Nach dem umstrittenen Wahlergebnis führt er die Menschen auf der Straße gegen die neue Regierung, wird später wegen „Mordvorwürfen und Massenunruhen“ verhaftet und muß zwei Jahre im Gefängnis
absitzen. Nach seiner Freilassung gründete er die Bewegung Zivilvertrag, die hauptsächlich gegen Präsident Sargsjan Front macht und sich 2012 dem Oppositionsbündnis Yelk („Ausweg“)
anschloß.
Der Erfolg und der Einzug des stark pro-europäischen Wahlbündnisses ins Paralament war gleichzeitig mitverantwortlich, daß es der heterogene sozialdemokratisch-liberale HAK von Ter-Petrosjan
nicht mehr ins Parlament schaffte. Die neue Opposition ist also wesentlich klarer pro-westlich ausgerichtet.
Premier Sargsjan versuchte die Lage zunächst zu beruhigen, in dem er sich mit Paschinjan zu einem öffentlichen Gespräch traf. Als dieser aber nur sagte, er sei hier, um über Sargsjans Rücktritt
zu verhandeln, beendete dieser ob der Brüskierung und Erpressung nach zwei Minuten das Gespräch.
Der Premier glaubte zunächst die Proteste wie schon 2008 und 2012 erfolgreich aussitzen zu können. Er ließ mehrere hundert Menschen festnehmen, darunter auch Paschinjan und drohte mit dem Einsatz
der Sicherheitskräfte.
Als aber die Proteste nicht abebbten und über 200 Soldaten in Uniform, aber unbewaffnet, an den Demonstrationen teilnahmen, war dies ein Signal, daß das Militär nicht mehr geschlossen hinter der
Regierung stand. Sargsjan leitete seinen Rücktritt ein, Karen Karapetjan wurde zum Übergangspremier ernannt. Dieser ist ein Anhänger Sargsjans, wurde aber mit der etwas nebulösen Aussage zitiert,
daß die Menschen die Opposition auch wählen sollen, wenn sie wollten, daß diese regiert. Ein klare Anspielung auf das Wahlergebnis von Yelk, welches nur neun von 105 Parlamentssitzen
einfuhr.
Ob der ständig in Militärklamotten auftretenden Unruhestifter Paschinjan das Zeug zum Regierungschef hat oder Karpetjan noch bis zum regulären Wahltermin amtiert, wird sich zeigen. Die dritte
Lösung, die ins Spiel gebracht wird, eine Regierung unter Führung der pan-armenischen Traditionspartei Daschnak, die sich in diesem Konflikt neutral verhielt, dürfte bestenfalls zur
Komplizierung des Verhältnisses zu den Nachbarstaaten beitragen.
Diese sozialdemokratisch, aber auch extrem nationalistisch ausgerichtete Partei, die vor allem von Auslandsarmeniern finanzielle Unterstützung erhält, träumt von einem „Groß-Armenien“, welches
die armenischen Minderheiten in Georgien, Aserbaidschan, dem Iran und der Türkei in einem Staat vereint.
Der Umsturz in Armenien kann nicht mit der „Rosenrevolution“ in Georgien verglichen werden, als Michail Saakaschwili mit seinen Anhängern das Parlament stürmte und der „Silberfuchs von Tiflis“,
der alternde Präsident Eduard Schewardnadse, durch die Hintertür fliehen mußte. Der armenische Machtwechsel ist sanfter, weicher. Noch stellt die Republikanische Partei die stärkste
Fraktion, einer der ihren ist Premier und auch der Staatspräsident ist noch im Amt. Doch die Dinge sind in Bewegung geraten und der Machtwechsel wird nicht aufzuhalten sein.
Einen raschen Wechsel Armeniens ins NATO-Lager haben wir aber wohl dennoch nicht zu befürchten. Der Konflikt mit Aserbaidschan sorgt dafür, daß die Schutzmacht der Azeris, der NATO-Staat Türkei,
sein Veto gegen einen Beitritt Armeniens einlegen wird. Und die Lobbyarbeit Aserbaidschans und der Türkei in Brüssel ist derart stark, daß auch ein EU-Beitritt des kleinen Kaukasusstaates in
weiter Ferne liegt.
Der Machtwechsel dürfte daher vorrangig innenpolitische Folgen haben. Desweiteren könnte er dazu führen, daß sich westliche „Nichtregierungsorganisationen“ verstärkt in Eriwan einnisten und
Lobbyarbeit gegen Rußland betreiben.
Kay Hanisch
April 2018
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